Totentanz

01/2022
Totentanz

Vor ungefähr 600 Jahren entwickelten Künstler ein monumentales Bildmotiv, das heute weltweit verbreitet ist: den Totentanz. Tanzende Skelette zwingen Standesvertreter in einen Reigen, dem sie verzweifelt zu entkommen versuchen. Alles Diskutieren, Betteln oder auch Beten hilft nicht – der Tod ist unerbittlich und nimmt die Sterbenden mit sich. Aber wohin? Und welches Schicksal lauert dort?

Seit über 200 Jahren versuchen Kunsthistoriker/innen, Künstler/innen, Philolog/innen, Theolog/innen, Mediziner/innen und Sammler/innen den Begriff Totentanz zu definieren. Fordern die einen strenge Einhaltung formaler Kriterien – wie etwa das gemeinsame Tanzen des Todes mit Personen verschiedener Stände –, genügen anderen bereits einfache Skelettdarstellungen. Nüchtern betrachtet muss man heute wohl sagen: DEN Totentanz gibt es nicht. Doch gerade diese Vielfalt bei einem in der Gegenwart gerne beiseitegeschobenen Thema ist Anlass dieser Ausgabe von kunst und kirche, das Geschichte und Gegenwart des Totentanzes gewidmet ist. Hartmut Freytag und Hildegard Vogeler erklären am berühmten Beispiel aus Lübeck Idee und Hintergrund und zeigen, wie sehr das Kunstwerk in der Marienkirche international und bis in die Gegenwart prägend wirkte. Robert Pfeifer spricht von dessen Gegenwart und Zukunft im Beitrag über ein eigenes Festival.

Mit Ilona Hans-Collas und Sophie Oosterwijk konnten zwei internationale Expertinnen für kunst und kirche gewonnen werden. Schreibt die eine über den berühmten Pariser Totentanz und die französische Tradition des Mittelalters, so die andere über die breite – und bis heute kaum erforschte – englische. Das Grenz- und Genreübergreifende rückt ins Blickfeld. Elvira Mienert, Herausgeberin einer eigenen Zeitschrift zum Totentanz, richtet den Blick erneut auf das Heute. Sie stellt wichtige deutschsprachige Künstler/innen der Gegenwart vor und zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod und seiner symbolischen Verbildlichung nichts an Aktualität verloren hat. Auch Angela Eberhards Arbeit ist dem stets gegenwärtigen Thema gewidmet und verschiebt die Perspektive vom Sterbenden zum Tod. Dass heute aber auch andere Zugänge zum Thema möglich sind, vermitteln Johanna Di Blasi und Janna Maria Nandzik mit ihrem Beitrag zum Berliner Salon und Club The School of Death.

Mit dem europaweit einzigartigen Museum und Zentralinstitut für Sepulkralkultur in Kassel stellt Jutta Lange Geschichte und Zukunftsaussichten eines ungewöhnlichen Hauses vor. Nicht minder wichtig ist die einschlägige Grafiksammlung Mensch und Tod der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, präsentiert von Jörg Vögele und Luisa Rittershaus. Über 6.000 Objekte schlummern in einem Depot, weil leider geeignete Ausstellungsräume fehlen. Liebe Leserinnen und Leser, treten wir gemeinsam ein in einen grenzenlosen, geschichtsträchtigen und mitunter makaber anmutenden Diskussionsraum und öffnen uns vergessenen, fremden oder neuen Gestaltungsweisen irdischer Sterblichkeit.

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