Scham

04/2011
Scham

Die Scham liegt in den Augen

Jüngst ist die Scham vermehrt ins Zentrum kulturwissenschaftlicher, philosophischer, psychologischer, soziologischer und theologischer Aufmerksamkeit gerückt. Allerdings, und dies überrascht: Auf den ersten Blick ist sie kein beziehungsweise nur indirekt ein Thema der Kunst. Dabei rührt die Scham an kunstwissenschaftliche und ästhetische Diskurse zu Blick und Voyeurismus; sie mischt sich in die Rezeption von Bildern der Nacktheit und Pornografie; sie hat Anteil am Abjecten; sie macht sich bemerkbar in unseren Tabus und ihrer Überschreitung; im Ausloten von Hell- und Dunkelzonen steht sie in engem Bezug zu Fotografie und Film. Scham konstituiert sich im Blicken und Erblickt-Werden.

Wir wollen keine Ikonografie der Scham aufrollen: Die Erzählungen von Adam und Eva, Susanna im Bade oder Diana und Akteion sind andernorts bereits abgehandelt. Vielmehr interessiert uns, Symptome von Scham in der Produktion und Rezeption von Kunst, Architektur und Film auszumachen. Uns interessieren bildnerische, erzählerische und räumliche Positionen, die Augen-Blicke der Scham herausfordern: Wie stark bildet der gebaute Raum individuelles und kollektives Schamempfinden ab? Was geschieht, wenn räumliche Grenzen die Definition von Privat und Öffentlich verwischen, wenn mediale Kommunikationsflüsse Wände, Türen und sorgsam drapierte Vorhänge negieren? Wen trifft die Scham, wenn Gerichts- und Kriegsfotografie die Ohnmacht der Beobachteten gegen den Hunger nach dem extremen Bild ausspielen? Strukturen der Beschämung sind die Basis mitunter höchst provokanter künstlerischer Strategien. Wollen und dürfen sie das? Und wenn ja: Im Recht auf künstlerische Freiheit? Im Sinne von Aufklärung? Mit dem Anspruch der – und welcher? – Moral?

Mit seinen kulturhistorisch und soziologisch weit verzweigten Aspekten ist das Thema zu groß, um es in einem Heft auch nur annähernd abzubilden. Wir nahmen uns das Recht heraus, unseren Autorinnen und Autoren einzelne Fragestellungen zuzuspielen. Ein Aufspüren von Scham in künstlerischen Zeugnissen erwies sich dabei als Herausforderung: Auch das Nachdenken über Scham hat längst Konventionen ausgebildet. Einem tatsächlichen Scham-Empfinden kann die Sprache fehlen, während der (scheinbare) Konsens über kollektive Scham die eigene Lektüre von Bildern und Räumen zu überblenden droht.

Nochmals anders gefragt: Schafft nicht gerade der ästhetische Diskurs eine Distanzierung, die die Unmittelbarkeit der Scham bereits hinter sich gelassen hat? Sind wir nicht dabei, uns schreibend der Scham zu entziehen?

Monika Leisch-Kiesl, Isabel Zürcher

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