Postsäkular - Zum Beispiel: Tschechien
Der Blick vom Hradschin auf die Prager Stadtsilhouette zeigt ein historisch gewachsenes, homogenes Panorama mit dominierenden Kirchtürmen, Kuppeln und Klostergebäuden in Harmonie mit Profanbauten unterschiedlichster Epochen. Der pittoreske Postkartenblick auf eine organisch gewachsene, urbane Landschaft aus Profan- und Sakralarchitektur hat allerdings mit der gesellschaftlichen Realität nur wenig zu tun. Tschechien gilt nicht erst seit den Dekaden des Kommunismus als eines der am stärksten säkularisierten Länder Europas. Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) hat hier früher begonnen und ist weiter fortgeschritten als in anderen Teilen des europäischen Kontinents. Zwei Autostunden östlich der tschechischen Hauptstadt eröffnet sich eine ganz andere Welt: Menschenleer und gottverlassen erscheint das ehemalige Sudetenland, wo man nur dann und wann verlassenen und verfallenden Dörfern mit Kirchenruinen begegnet. Genau in diesem Gebiet hat sich aber erstmals in Tschechien der Schweigeorden der Trappisten niedergelassen. Mit dem Bau der neuen Kirche und des Klosters haben sie mit John Pawson einen Architekten beauftragt, der sich bis dahin ganz profanen Bauaufgaben, wie den Flagship- Stores der Modekette Calvin Klein gewidmet hatte. Seine Kirche im tschechischen Nový Dvůr ist inzwischen zu einer der Inkunabeln von Re-Sakralisierungstendenzen im Kirchenbau am Beginn des 21. Jahrhunderts geworden. – Haben diese Phänomene miteinander zu tun, oder sind sie nur Ausdruck einer zufälligen Koinzidenz?
In einem Gespräch mit dem einflussreichen Soziologen und Theologen Tomáš Halík und dem Prager Erzbischof Dominik Kardinal Duka haben die Heftredakteure versucht das Verhältnis von Kirche und Staat in Tschechien ganz grundsätzlich zu beleuchten. Als Konkretisierung auf die spezifische Fragestellung unserer Zeitschrift entwirft die Kunsthistorikerin Pavla Pečinková in der Folge ein Überblicksbild über spirituelle Tendenzen in der tschechischen Kunst des 20. Jahrhunderts in wechselnden politischen Regimen, das hilfreich ist für das Verständnis so unterschiedlicher GegenwartskünstlerInnen wie Adriena Šimotová, Jaromír Novotný oder Jan Knap.
Unser Ziel war nicht ein „Länderheft“ zu gestalten, das einen Gesamtüberblick über den auch in Tschechien erfolgten, oft qualitativ mittelmäßigen Boom neuer Kirchenbauten in den Neunzigerjahren oder eine Zusammenfassung religiös relevanter künstlerischer Richtungen und Schulen bietet. Wir wollten vielmehr anhand markanter Einzelbeispiele im Kirchenbau, künstlerischer Positionen und Initiativen wie der in der Akademikerkirche St. Salvator in Prag Schlaglichter auf manchmal sehr überraschende Auseinandersetzungen mit religiösen Fragestellungen in einer Gesellschaft zeigen, die einst als Musterbeispiel für ein kompromissloses Laboratorium eines atheistisch-säkularen Staates galt. Waren die Auseinandersetzungen um die Besitzverhältnisse des Prager Veitsdomes oder die Verhandlungen über Restitutionszahlungen enteigneten Kirchenbesitzes so etwas wie ein Lackmustest für das Verhältnis von Kirche und Staat, so könnten künstlerische Interventionen wie diejenige des Koreaners Choi Jeonghwa in einer ehemaligen Jesuitenkirche (am Cover dieser Ausgabe von „Kunst und Kirche“) Versuchsanordnungen sein, die historische Altlasten entschweren und ganz neue Perspektiven eröffnen.
Diese Ausgabe von „Kunst und Kirche“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Theologie und Kunst an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag.
Alois Kölbl und Norbert Schmidt
Interview mit Alois Kölbl in der deutschsprachigen Ausgabe von Radio Praha: