Post-Orientalismus?

03/2019
kunst und kirche 3/2019

Der überstrapazierte Gebrauch des Präfixes ‚post‘, mit dem etwas Bekanntes als ‚abgeschlossen‘ und eine wie auch immer geartete ‚neue‘ Phase eingeführt wird, ist ärgerlich. Meist bleibt die Bedeutung der Wortzusammensetzung nebulös und bedarf einer eingehenden Erklärung. So verhält es sich auch bei der Bezeichnung Post-Orientalismus. Warum braucht es diesen Begriff und wofür/wogegen tritt er ein? Ist darunter bloß eine Zeit ‚nach‘ dem Orientalismus mit seinen nicht unproblematischen westlichen Projektionen auf den Orient zu verstehen? Wenn ja, wie gestaltet sich diese Zeit ‚danach‘? Hält der Begriff Chancen bereit, das gedankliche Konstrukt Orient und das damit verbundene Denken in hierarchischen Gegensätzen aufzubrechen oder vielleicht sogar überwinden zu können? Heft 3/2019 von kunst und kirche zum Thema Post-Orientalismus zeigt auf, dass es beim Ringen um diese Begrifflichkeit nicht um ein abstraktes wissenschaftliches Problem geht, sondern damit Fragen der Machtverteilung und aktuelle soziopolitische Brennpunkte evident werden. In vielen Bereichen unseres Lebens finden wir jene stereotype Orientbilder vor, mit denen (neo-)koloniale Macht-Asymmetrien aufrechterhalten werden. Wie Post-Orientalismus gefasst werden kann, wo die Thematik sichtbar wird und warum uns diese alle betrifft, wird in den einzelnen Beiträgen anhand der Bereiche Architektur, Theologie, Mode, Religion und Medien, sowie Kunst und Ausstellungspraxis beleuchtet. Diese Ausgabe bietet ein breites und multiperspektivisches Spektrum an Diskussionen rund um den Begriff: In einem einführenden Beitrag versuchen die beiden Gastredakteurinnen eine Darstellung dieser Debatte, indem die Bezeichnung kontextualisiert und von weiteren Begrifflichkeiten abgegrenzt wird. Hier findet sich auch eine Kurzvorstellung aller Heftbeiträge. Neben stärker wissenschaftlich orientierten Texten umfasst die Ausgabe einen Essay mit einer Bildstrecke zum Thema Mode, ein Interview mit einer Galeristin über Ausstellungspraxen und Kommunikationsformen und ein künstlerisches Statement einer iranisch-kanadischen Kunstschaffenden. Dass die Autor*innen das Hauptaugenmerk auf das emanzipatorische Potenzial von Post-Orientalismus legen und unterschiedliche Widerstandsformen gegen orientalistische Paradigmen vorstellen, kann als eine der Quintessenzen des Heftes sowie als Grundtenor derzeitiger fachlicher Diskurse betrachtet werden. Auch wenn mit dem ‚post‘ altbekannte Dichotomien zwischen Ost und West – und damit die vorurteilsbeladenen, wechselseitigen Projektionen – keineswegs verschwunden sind, sind gerade in gesellschaftlich und politisch turbulenten Zeiten wie diesen Perspektivenwechsel und alternative Sichtweisen von besonderer Notwendigkeit.

Julia Allerstorfer und Susanne Winder

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