documenta 12 - Spätlese

04/2007
documenta 12 - Spätlese

„Eine andere Art von Transzendenz ist in dem Unabgegoltenen bewahrt, das die kritische Aneignung identitätsbildender religiöser Überlieferung erschließt, und noch eine andere in der Negativität der modernen Kunst. Das Triviale muß sich brechen können am schlechthin Fremden, Abgründigen, Unheimlichen, das sich der Assimilation ans Vorverstandene verweigert, obwohl sich hinter ihm kein Privileg mehr verschanzt“ (Jürgen Habermas).
Die documenta ist ein prominenter Ort, an dem sich zeigt, ob die Gegenwartskunst den Stachel noch zuspitzen kann, an dem sich die triviale Alltagserfahrung bricht. Walter Benjamins Geschichtsengel an prominenter Stelle der d 12 ist jedenfalls Hinweis genug, dass es auch Roger Buergel und Ruth Noack darum ging, die kritischen Gehalte der gegenwärtigen Kunst und die an uns gerichteten unabgegoltenen Ansprüche der klassischen Moderne ins Spiel zu bringen.
Dann muss man aber über die Bedingungen ästhetischer Erfahrung sprechen, so Dietrich Zilleßen in diesem Heft. Die Sinnlichkeit zu sensibilisieren und die Wahrnehmung zu schärfen, genügt nicht. Es bedarf einer ethischen Einstellung, nämlich der Achtung des Fremden. Und einer religiösen Beziehung zum Fremden, die verhindert, dass ästhetische und religiöse Transzendenz in einen Erbstreit verwickelt werden und „die Kunst die Religion ... in ihrer Haltung der Überschreitung aller menschlichen Wertungsgesichtspunkte beerbe“(Christof Menke). In diesem Fall würde nämlich der Gewinn verspielt, der in einer Beziehung zweier autonomer Sinndimensionen liegt. Was auf dem Spiel steht, zeigen eindrücklich die beiden kirchlichen Begleitausstellungen zur documenta.
Folgt man allerdings der professionellen Kunstkritik – Monika Leisch-Kiesl hat in dieser Ausgabe den Konflikt zwischen Kuratoren und Kritik herausgearbeitet – dann ist die d 12 weitgehend gescheitert. Dagegen stehen die Wahrnehmungen der Besucher, die für einen Zuschauerrekord sorgten. Die Kunst der Vermittlung in der Vermittlung der Kunst war ein Schwerpunkt des Konzepts von Roger Buergel und Ruth Noack, und ein wesentlicher und bleibender Erfolg dieser documenta. Mit geradezu protestantischem Bildungseifer verfolgten sie das Projekt einer egalitären und kommunikativen Öffnung der Gegenwartskunst. Liest man die „Best of“ Beiträge in diesem Heft, dann ist es in der Tat die gelebte Kunstrezeption, der Spürsinn des einzelnen Betrachters, der die Schätze hebt. In den Miniaturen der „Best of“ zeigt sich eine Familienähnlichkeit von Kunstrezeption und Religionsaneignung. Es ist der Typus einer nicht-traditionalistischen Erneuerung, sowohl der christlichen Religion wie der modernen Kunst, die sich aus dem Bedürfnis speist, die ästhetischen, religiösen und sozialen Spielräume für die eigene Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung zu erweitern. Nicht zufällig glich die documenta atmosphärisch einem ökumenischen Kirchentag.
Das Fest ist vorbei, wenn dieses Heft erscheint. Weshalb sollten Sie da eine Ausgabe „Spätlese documenta“ in die Hand nehmen? Weil in diesem Heft die documenta 12 nicht nur nach- , sondern weitergedacht wird im Blick auf die Folgen für die Gegenwartskunst und die Kirchen. Und die lassen sich in einigem zeitlichem Abstand einfach besser würdigen.

Thomas Erne

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