Material

03/2012
Material

Vom wechselnden Wert des Materials

Stein, Backstein und Holz waren bis vor etwa 150 Jahren die einzigen Materialien, die zur Konstruktion großvolumiger Bauten zur Verfügung standen. Mit der Entwicklung des Stahlbetons ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten sich neue technische und gestalterische Möglichkeiten, die sich nicht zuletzt auch auf den Sakralbau entscheidend auswirkten. Wurde bis dahin verwendet, was regional verfügbar war – Backstein dort, wo es keine Natursteinvorkommen gab, Holz, wenn die Not groß war –, eröffneten ein effizienteres Transportwesen, eine von lokalen Ressourcen beinahe entkoppelte Fülle an verfügbarem Material und die Entwicklung neuer Baustoffe beinahe unbegrenzte konstruktive und formale Möglichkeiten.

Stellenwert und Bedeutung von Materialien änderten sich im Lauf der Zeit. Gilt der Backstein oder Ziegel heute als werthaltig und edel, so erfuhr er zu anderen Zeiten Geringschätzung, wie wir zum Beispiel aus der „Vita Augusti“
des römischen Schriftstellers Sueton erfahren, der betont, dass Augustus eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden, aber eine aus Marmor hinterlassen habe. Während in der Bibel der Stein sowohl im metaphorischen Gebrauch als auch in seiner Funktion als Baustoff besonders solider, repräsentativer Gebäude von Bedeutung ist, verhindert Gott den babylonischen Turmbau aus Ziegeln.

Holz galt von jeher als Material in der Not. Beim Bau der Kirche Ste. Catherine
in Honfleur anstelle einer im 100jährigen Krieg abgebrannten Steinkirche bediente man sich rasch und günstig verfügbarer Holzstämme aus den nahen Eichenwäldern sowie lokaler Schiffsbauer. Die als vorübergehender Bau konzipierte Kirche steht bis heute – ebenso wie viele der von Otto Bartning nach dem 2. Weltkrieg geplanten Notkirchen, für die heute eine Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe gefordert wird. Die von Architekturschulen und -szenen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgehende Renaissance des Holzbaus der jüngsten Zeit wird auch von Politikern gern verwendet, um das Holz als besonders umweltfreundlichen und vor allem einheimischen Baustoff zu rühmen. Vorarlberger Weißtanne oder Weinviertler Eiche werden zu Symbolträgern und Repräsentanten ihrer Herkunftsregion, wie wir es von Marmor aus Carrara und Plattenkalk aus Solnhofen kennen. Ob die verbauten Holzmengen dann tatsächlich aus nachhaltig bewirtschafteten heimischen Nutzwäldern stammen oder durch Urwaldzerstörung gewonnen werden, interessiert in diesem bildhaft symbolischen Zusammenhang ebenso selten wie die tatsächliche Herkunft und Produktionsweise eines Marmors. Der Wert, die Würde und die Bedeutung eines Materials werden unter Miteinbeziehung dieser Aspekte relativiert. Was angemessen ist – zum Wohle der Gemeinschaft und „zur höheren Ehre Gottes“ –, ist in der Fülle der Optionen bei jedem Bau neu zu verhandeln.

Franziska Leeb

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