Gedenken

04/2022
Gedenken

„Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“, schrieb Robert Musil 1927 in den frühen Jahren der Demokratie in der Weimarer Republik. Doch waren viele der damaligen Monumente Errungenschaften des aufstrebenden Bürgertums und Zeichen von Teilhabe jenseits monarchischer Repräsentation. Nach dem Zweiten Weltkrieg vermied man im ‚Westen‘ gerne realistische Darstellungen und bevorzugte abstrakte Skulpturen, um sich von totalitären Ästhetiken abzugrenzen. Zugleich demontierten die künstlerischen Neo-Avantgarden jegliche monumentale Form – Prozesse, die heute wieder ganz aktuell erscheinen (Beitrag von Laura Barreca). Bis zum Mauerfall stießen zeitgenössische Positionen jedenfalls auf Unverständnis: Henry Moores Werk Die Sitzende wurde 1959 in Wuppertal wortwörtlich geteert und gefedert, Richard Serras Tilted Arc musste 1989 per Gerichtsbeschluss abgetragen werden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kamen in Europa die Denkmäler der alten Regime zu Fall; bis heute wird – ein globales Phänomen – um Identität und künstlerische Deutungshoheiten im öffentlichen Raum gerungen (Majid Akhgar). Auch Diskussionen um Mahnmale gegen das Vergessen von Unrecht, Verfolgung und Völkermord entwickelten neue Brisanz, da sich Opfer- und Täter:innen-Perspektiven verschoben hatten. Gegen die Tradition des Verschweigens von Schuld mussten Opferverbände jahrzehntelang um Anerkennung ringen, wie im Fall der Sinti und Roma (André Raatzsch) und des Holocaust-Gedenkens in der Schweiz (Fabienne Meyer).

Diese Beispiele veranschaulichen, dass Gedenken in Form von Monumenten im öffentlichen Raum immer wieder heftige Reaktionen auslösen kann, die einen tiefen Einblick in aktuelle Ethiken und politische Diskurse geben. Wurden manche Statuen, wie in den USA, lange kaum wahrgenommen, öffnete die Black lives matter-Bewegung die Augen für ein dominantes historisches Narrativ, das man nicht mehr zu tolerieren gewillt ist. Postkoloniale Positionen fordern plurale und multiperspektivische Erinnerungskulturen, die auch Fragen nach dem Umgang mit diskriminierenden, rassistischen und antisemitischen Bild-Stereotypen stellen (Meron Mendel und Nikolaus Bernau). Exklusive Narrative sollen durch zeitgenössische Interventionen gebrochen und für ein diverses Verständnis von Gesellschaft geöffnet werden (Nathalie Ritter). Mit aktuellen Kontroversen für und gegen Denkmalsetzungen (Martina Gelsinger), für oder gegen eine dominierende Identitätspolitik und Erinnerungskultur (Manfred Scheuer) scheint in den letzten Jahren Gedenken erneut schwierig, zugleich aber vielfältig und aussagekräftig für aktuelle gesellschaftliche Aushandlungsprozesse.

ILARIA HOPPE UND ANNA MINTA

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