Augenhöhe - Kunstvermittlung - vertikal oder horizontal?

01/2023
Augenhöhe

GEGENÜBER DEN AUGEN

So lange liegt der Schatten
Zwischen zwei Gesichtern,
die sich sehen,
bis das eine aufstrahlt
und sagt: leuchte du.
(Gekommen bin ich aus dem Dunkel)
RENATO P. ARLATI (1936–2005)
 

Der Begriff „Augenhöhe“ ist en vogue. Hört man in unsere gesellschaftlichen, politischen, kulturellen oder bildungspolitischen Debatten hinein, so gehört er im Kontext der Kommunikationsstrategien mittlerweile ohne Zweifel zur political correctness und darf in keiner Diskussion über aktuelle Problemlösungen und Zukunftsstrategien fehlen. Geht es um Emanzipation, Diversity und ihre Realisierungschancen in unserer Gesellschaft, so ist unstrittig, dass die jeweiligen Akteur*innen einander „auf Augenhöhe“ zu begegnen haben. Und zweifellos ist es ebenso, dass ein gleichberechtigter Umgang in nahezu allen nationalen und internationalen Kontexten viel zu lange ignoriert worden ist. Hierarchien, Dominanzgebaren, Machtausübung, koloniale Strukturen waren und sind in der Regel noch immer selbstverständlicher als ein Aufeinander-Hören, die gleichberechtigte Wahrnehmung des Anderen und damit verbunden eine adäquate Anpassung des eigenen Verhaltens. Doch woran denken wir, wenn wir von „Augenhöhe“ sprechen? Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel schreibt: „Gesichter stehen nie für sich allein; sie erhalten ihre Bedeutung durch ein Vis-á-vis, durch das Wechselspiel zwischen Sehen und Angesehenwerden. […] Das griechische prósopon […] heißt wörtlich ‚das, was gegenüber den Augen (eines anderen) ist‘.“1 Mit anderen Worten: Jede (!) direkte menschliche Begegnung ist nur von Angesicht zu Angesicht möglich. Wie also wollen wir angesehen werden und was wollen wir sehen und was verbergen wir? Welche Identitätsfragen sind damit verbunden? Ein Heft von kunst und kirche, das „Augenhöhe“ in den Mittelpunkt stellt, muss sich thematisch beschränken. Wir gehen ausschließlich der Frage nach, wie „Augenhöhe“ in der künstlerischen und religiösen Vermittlung ausformuliert wird. Wir fragten unsere Autor*innen, was „Augenhöhe“ für sie in ihrer kuratorischen Arbeit und bei der Vermittlung im Bereich von Museen, kirchlicher Pädagogik und der Gestaltung von christlich geprägten Räumen bedeutet. Theoretische und praxisnahe Antworten sind in diesem Heft ebenso zu finden wie konkrete Lösungen, entworfen von Künstler*innen und Architekt*innen.

1 Weigel S., Das Gesicht als Artefakt. Zu einer Kulturgeschichte des menschlichen Bildnisses, in: dies. (Hg.), Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen (Trajekte), München 2013, 7–29, hier 7–8.

 

URSULA RÖPER UND WINFRIED SCHWAB

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